Der Schleier eines Lebens – eine Kurzgeschichte

Durch das Fenster betrachtete sie die vorbeiziehende Landschaft, grau und trostlos lag sie da. Häuser tauchten auf, kleine und große, mit flachen und hohen Dächern. Manche Häuser besaßen Schornsteine aus denen Qualm hoch stieg, der sich mit der diesigen Luft verband. In den Gärten spielten kleine Gestalten mit Bällen, frei, unbeschwert und ohne jegliche Sorgen. Für sie war die Welt groß und voller Möglichkeiten. In zehn bis zwanzig Jahren würden sie sich mit der Realität aus einander setzen müssen und sehen, dass Träume manchmal nur Träume bleiben. Nicht in jeder Person steckt etwas großartiges, aber bis zu der Einsicht blieb noch etwas Zeit. Bald waren die Kinder nicht mehr zu sehen. Die Häuser verschwammen zu schemenhaften Umrissen. Winzige Autos fuhren eine Straße entlang, Unmengen von winzigen Spielzeugautos. Die Menschen eilten von einem Termin zum nächsten, schafften es kaum an einem Ort zu verweilen, da es die Möglichkeit gab etwas zu verpassen, etwas ganz Wichtiges. Was dieses Wichtige war wusste niemand, dass es wichtig war, wusste dafür jeder.

Die Straßen wurden weniger. Immer mehr Bäume waren von ihrem Fensterplatz aus zu sehen, Bäume, die in den Himmel wuchsen, höher und höher. Der Winter stand vor der Tür. Die Blätter hatten ihre Farbe verloren. Dunkel und mystisch standen sie da. Vor ihnen wurde das Bild durch Felder und Wiesen gebrochen, auf denen irgendetwas angebaut wurde. Es bildete einen Kontrast zur freien und unberührten Natur. Hier wich das Schöne dem Alltäglichen. Traktoren fuhren auf ihnen auf und ab. Mit einem Mal trat ein stinkiger, nach faulen Eiern riechender Geruch in ihre Nase. Der Rauch eines wandelnden Klischees von Mann, der breitbeinig eine Zigarette rauchte, sorgte für die Bildung eines neuen wunderbareren Geruchs. Ein so wunderbarer Geruch, dass die ältere Dame, die ihr gegenüber saß, sich ihren bestickten Schal vor dem Mund hielt. Dazu besaß er ein lautes Stimmorgan, um den Leuten in seiner Umgebung von der Irrelevanz der deutschen Artikel zu überzeugen. Der Mann neben der älteren Frau schien von alldem nichts mit zu bekommen. Er tippte ununterbrochen auf seinen Laptop ein. Dabei tippte er so schnell, als hätte er Angst einen Gedankengang zu vergessen. Seine Augen waren dabei hypnotisiert auf den Bildschirm gerichtet. Hin und wieder schielte er schnell zu seiner Uhr, die an seinem rechten Handgelenk hing. Anscheinend hatte er gleich noch einen ganz wichtigen Termin. Hoffentlich würde der Zug keine Verspätung haben. Vielleicht würde er sonst die deutsche Bahn verklagen, denn diesen Eindruck machte er mit seinem eleganten und langweiligen Anzug, wie ein Mann, dem nichts wichtiger war als sein Beruf und das Geld auf seinem Konto. Aber auch er würde gegen die deutsche Bahn nicht ankommen, da müsste er sich leider geschlagen geben. Zu seinem Glück blieb die Zugfahrt von Zwischenfällen verschont, nichts Spannendes passierte.

Sie blickte sich um und betrachtete die restlichen Passagiere aus ihrem Abteil, weitere Geschäftsmänner, Ehepaare die schweigsam neben einander saßen, Jugendliche auf den Weg zur nächsten Shoppingtour, Eltern mit ihren Kindern. Von weiten war gelegentlich der Schrei eines Kindes zu hören. Man musste es ihm lassen: Ausdauer hatte es. Gelangweilt wandte sie sich wieder dem Fenster zu. Die verbeiziehende Gegend hob ihre Stimmung nicht. Der Zug fuhr durch ein ärmliches, vermülltes Viertel. Graffiti überzog Brücken und Hauswände. Reizend. Die Bremsen quietschten pfeifend. Der Zug hielt an. Mehrere Menschen verließen den Zug, neue kamen hinzu. Zwei Mädchen setzten sich auf den Platz hinter dem Vierer und befanden sich somit in ihrem Gesichtsfeld. Die dem Fenster zugewandte Person war mit langen verträumten Wellen gesegnet, hatte aber so viel Schminke im Gesicht, dass man sich fragte, ob der Karneval nicht schon ausgebrochen war. Ihrer Freundin hätte ein wenig Schminke ganz gutgetan, bei den zahlreichen Pickeln, die eitrig aus ihrem Gesicht hervorquollen. Sie gestikulierte eifrig mit den Händen und malte dabei allerlei Zeichen in die Luft. Anscheinend war sie aufgeregt und musste ihrer Freundin etwas Wichtiges erzählen. Diese drehte sich netterweise darauf hin alle paar Sekunden zum Fenster. Als stände da die Lösung, die ihre Freundin zum Schweigen bringen würde.

Eine nuschelnde Stimme ertönte. In wenigen Minuten erreiche der Zug den Hauptbahnhof.
Sofort sprangen die Passagiere von ihrem Plätzen auf, als hätten ihre Sitze zu brennen begonnen und sie müssten um ihr Leben flüchten. Dabei dauerte es mindestens noch fünf Minuten bis sie die Brücke überquert hatten. Ein Wunder, dass diese aufgrund der Last der ganzen Liebenden noch nicht eingestürzt ist, bei den ganzen Schlössern, die dort hingen. Wie viele glückliche Paare es nur gibt. Bestimmt haben schon einige Menschen nach einer harten Trennung verzweifelt nach ihrem Schloss gesucht, sind herumgeirrt, von Schloss zu Schloss. Auf keinen Fall hatte sie es selbst schon ausprobiert. Endlich blieb der Zug stehen, die Türe öffneten sich und die Menschenmassen strömten eilig nach draußen. Betont langsam beugte sie sich nach vorne, um nach ihrer abgenutzten Tasche zu greifen. Die braune Farbe ließ sich nur noch mit Mühe erkennen, weil sich kleine Risse bildeten, die führ seltsame schwarze-graue Flecken sorgten. Die Tasche sah aus, als wäre sie einer Katze ausgeliefert gewesen. Langsam war es wirklich an der Zeit sich eine neue Tasche zu kaufen. Vielleicht in der Stadt. Mal schauen.

Von den Menschen ließ sie sich durch den Bahnhof gleiten. Eine andere Wahl blieb ihr auch nicht, da die Menschen einen riesigen Strom bildeten, der jeden mit sich riss. Nur wenige Wagemutige versuchten gegen den Strom anzukämpfen, um ihre nächste Bahn zu bekommen. Vergeblich suchten sie nach Durchgängen zwischen den Menschen, die sich immer mehr verschlossen. Die Menschen verschwammen zu einer undurchdringlichen Masse. Nach außen bildeten sie eine Einheit. Eine scheinheilige Einheit, denn sie waren einander fremd und wollten auch, dass es so bleibt. Jeder war in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen. Keiner sprach miteinander. Die einzige Kommunikation wurde über Mobiltelefone geführt, die alle in die Luft hielten. Das verband sie. Männer wie der Anzugträger im Zug versuchten über den Lärm hinweg Arbeitsgespräche zu führen und Termine zu vereinbaren. Reisende, die ihre Koffer hinter sich herzogen, wollten Bescheid geben, dass sie gut angekommen sind. Der Rest wollte sich auch mitteilen, über Whatsapp, Facebook und den restlichen Kram. Einige posten bestimmt schon die nächsten Bilder auf Instagram. Irgendjemanden mussten sie ja zeigen, wie toll und aufregenden ihr Leben doch ist.

Vor dem Bahnhof holten auch die Restlichen ihre Mobiltelefone hervor, damit sie gefühlt hunderttausend Bilder von dem Dom machen konnten. Ein Bild genügte natürlich nicht. Lieber immer das gleiche öfter machen, sicher ist sicher. Besonders die Japaner hörten gar nicht mehr auf. Bestimmt hatte sie schon mehreren unbewusst die Urlaubsfotos zerstört. Den Hipstern waren Fotos zu langweilig, die machten lieber Videos, Vlogs um genauer zu sein. Davon konnte sie auf dem Gelände einige erkennen. Sie waren auch kaum zu übersehen, mit ihren langen Wackelstäben und ihrem ständigen Gerede, dass auf Passanten bestimmt wie geisteskranke Selbstgespräche wirkte, eine neue Form der Schizophrenie. Zumindest bekamen sie heute etwas interessanteres zu filmen als sich selbst. Vor den Domtreppen sammelten sich neongelbe Menschen. Musik dröhnte aus Boxen und der Boden begann zu vibrieren. Unbeholfen hüpften sie von einem Bein zum anderen. Fett wackelte hin und her. Schweiß floss. Nach fünf Minuten war der Spaß vorbei. Endlich konnte sie sich auf den Weg in die Innenstadt machen.

20181031_125154

Ich liebe Bücher, ich liebe das gesprochene Wort. Des wegen versuche ich hin und wieder selber schriftlich tätig zu werden. Bei einem Versuch ist diese Kurzgeschichte entstanden, die ich, da sie länger geworden ist als gedacht, in drei Teilen veröffentlichen werde. Teil 2 folgt am Dienstag, den 6. November und Teil am Donnerstag, den 8. November. 

Ich hoffe, dass der Text euch ein wenig gefallen hat. Ich weiß, es handelt sich dabei um keine literarische Glanzleistung. Für Kritik bin ich immer offen 🙂

 

 

3 Kommentare

  1. Wir kennen uns von Twitter. Ich finde es einfach schön, Deinen Gedanken zu folgen. Auch wie ernst Du Literatur nimmst.

Kommentar verfassen