Der Schleier eines Lebens – eine Kurzgeschichte Teil 2

Ein peitschender Wind begrüßte sie. Oben angekommen würde sie bestimmt Ähnlichkeiten mit einer Vogelscheuche haben. Viele Meter hoch vor ihr ragte der riesige Dom mit seiner beeindruckenden Schönheit. Die mit Vogelscheiße verzierten Steine harmonierten hervorragend mit dem verwaschenen braun, dazu die Gerüste – ein wunderschöner Anblick und wahrlich einer Anreise wert. Dieselbe Meinung teilten bestimmt auch die ganzen Touristen, die sich um sie gesammelt hatten und von der eine Frau auf sie zu gestürmt kam. Dabei gestikulierte sie ausbreitend und sprudelte einen Schwall unverständlicher Worte aus. Schließlich hörte sie die Frage: „Può fare una foto di noi?“ heraus. War das Französisch oder Italienisch? Da sie statt zu antworten nur ein irritiertes Gesicht machte, hielt die Frau ihre Kamera hin und zeigte auf die Personen hinter sich, wahrscheinlich ihre Familie. Jetzt verstand sie: Ein Foto sollte sie von ihnen machen. Freundlich lächelte sie – versuchte es zumindest – wahrscheinlich sah es so freundlich aus wie das Grinsen des Grinchs. Mehrere Aufnahmen machte sie von der strahlenden Familie: Mutter, Vater und zwei Kinder. Eine Familie wie im Bilderbuch. Als sie fertig war, wurde ihr Gracie zu gerufen (ach Italiener). Dann umarmte sie einer nach dem anderen, bevor sie in der Masse verschwanden. Verwundert über die Aufdringlichkeit der fremden Personen blieb sie zunächst erstarrt stehen, bevor sie sich aus dem Zustand befreien konnte und denselben Weg einschlug wie die italienische Familie.

Der Menschenverkehr verdichtete sich, als die ersten Geschäfte auf der linken und rechten Seite auftauchten. Mittlerweile schien es ihr, dass es nicht die beste Idee gewesen war, an einem Samstag in die Stadt zu fahren. Nur ertrug sie ihre vier Wände nicht mehr, weswegen sie ohne jegliches Ziel von zu Hause aufgebrochen war. Das Blau der Tapete sollte Harmonie ausstrahlen, tat es aber nicht. Ihre Wohnung im siebten Stock eines Einfamilienhauses, strahlte im Allgemeinen keine Wärme aus. Seit ihrem Umzug hatte sich nichts verändert, die Möbel standen akkurat an ihrem Platz. Alles wirkte leblos. Nach der ganzen Zeit fühlte sie sich dort immer noch nicht zu Hause. Ein Fremder würde nicht denken, dass jemand in der Wohnung lebte, keine Zeichen einer nächtlichen Party, keine herumliegenden Gegenstände. Von dem Boden hätte man essen können. Keine persönlichen Bilder hingen an den Wänden, nichts machte die Wohnung einzigartig. Sie war austauschbar, wie ihr restliches Leben. Ein Mensch unter vielen, niemand der aus der Masse herausragte – sie existierte, mehr nicht. Vielleicht war sie deswegen in die Stadt gefahren, um sich ihrer Unbedeutsamkeit bewusst zu werden. Einfach die Aufgaben erfüllen, damit alle glücklich sind. Das heißt, die Eltern gelegentlich besuchen, sich von dem Ex fernhalten, brav arbeiten gehen und dann das verdiente Geld wieder ausgeben. Und das hatte sie jetzt vor.

Eine warme, klimatisierte Luft strömte ihr entgegen und ließ die Brille auf ihrer Nase beschlagen. Es hieße, shoppen stelle für viele Frauen das Paradies dar, mal sehen, ob daran etwas dran ist. Schon nach wenigen Sekunden, sie hatte noch nicht einmal die Zeit bekommen sich kurz umzusehen, wurde sie von einer hochroten Frau mit aufgeklebten Lächeln angesprochen.
„Wie geht es Ihnen? Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?“
„Nein, ich schaue nur.“
„Okay, aber haben Sie schon von unserem Angebot gehört? Heute gibt es zwei paar Schuhe zum Preis von einem.“
Nein, die ganzen Aufkleber draußen waren sehr dezent gehalten.
„Hinten haben wir zum Beispiel wunderschöne Overknees oder auch Boots, wenn sie diese lieber mögen“, fährt die hochrote Frau vor.
„Ich möchte mich einfach nur umschauen.“, wiederholte sie, hatte Mühe, ihrer Stimmen einen freundlichen Ton zu geben.
Endlich verschwand die Verkäuferin, bereit, sich auf die nächsten Kunden zu stürzen, die den Laden betraten. Somit konnte sie sich jetzt auf die Suche einer neuen Tasche begeben. Sie steuerte auf ein Regal links von ihr zu, dann untersuchte sie den hinteren Teil ab. Keine passende war dabei, die einen waren zu groß, die anderen zu klein und bei dem Rest stimmte die Farbe oder der Preis nicht, teilweise auch beides. Alle paar Minuten kreiste um sie eine hartnäckige Verkäuferin, drängte ihre Hilfe auf, gab stilistische Tipps, bis sie es nicht mehr aushielt und ohne einen Einkauf den Laden verlies. Keine Minute länger hätte sie sich noch beherrschen können, bei dem freundlichen Schauspiel mit zu machen.
Shoppen stellte für sie eindeutig kein Paradies dar.

Froh der parfümierten klimatisierten Luft entflohen zu sein, begrüßte sie den kalten Herbstwind. Leise summend ging sie weiter. Ein sachter Gesang und leise Gitarrenklänge drangen an ihr Ohr. Die Melodie kam ihr bekannt vor, es war ein fast vergessenes Lied. Noch war das Stimmgewirr der Passanten zu laut, zu störend, um den genauen Text zu verstehen. Sie ließ sich von der Musik leiten, fort von den Geschäften, in die sie keinen Drang verspürte zu gehen. Ihre alte Tasche musste noch reichen. Langsam wurde die Musik lauter und sie konnte eine Gitarre spielende Person ausmachen, umringt von einer großen Menschengruppe, die Kameras auf ihn gerichtet hatten. Verträumt und in sich selbst versunken saß er da und spielte. Seine Augen waren geschlossen. Für diesen einen Moment gab es nichts anderes als die Musik. Sie vergaß die Menschen um sich herum. Es gab nur noch ihn, seine kraftvolle und kratzige Stimme, in der eine leichte Melancholie mitspielte. Alles schien perfekt, alle Gedanken wurden aus ihrem Kopf gestrichen, alle Probleme aus der Welt gelöscht. Alles war in friedlicher Harmonie. Sie fühlte sich leicht, die Füße wurden wackelig und eine Flüssigkeit bildete sich in ihrem Augenwinkel. Die Welt war großartig, für einen kleinen, kurzen Augenblick. Nach zwei weiteren Liedern wurde die Gitarre eingepackt und die Menge löste sich auf. Jegliches Zeitgefühl ging ihr verloren. Nur noch die Musik existierte, die tief in ihrem Inneren etwas auslöste. Seit langem fühlte sie sich wieder lebendig. Ihr Herz schlug lauter, im Takt der Melodie. Nur langsam konnte sich aus ihrer Trance befreien und die Welt um sich herum wieder deutlicher erkennen. Sie blinzelte eine winzige Träne weg und machte sich auf den Weg, als hätte es diesen Moment nie gegeben.

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Ich hoffe, der Text hat euch ein bisschen gefallen. Am Donnerstag, den 8. November, geht es weiter mit dem dritten Teil, den Abschluss der Kurzgeschichte.

 

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