Menschen im Hotel von Vicky Baum | Leseeindrücke

Kann ein Buch einen nicht fesseln und gleichzeitig interessant sein? Was zunächst nach einem Gegensatz klingt, war mein Empfinden bei Menschen im Hotel von Vicky Baum. Für das eigentlich recht kurze Buch habe ich einige Zeit benötigt, woran das lag, was mir aber wiederum gefallen hat, erzähle ich euch nach einer kurzen Inhaltsangabe für diejenigen, denen das Werk nichts sagt:

Grand Hotel Berlin in den der 20er-Jahre: Hifsbuchhalter Kringelein ist schwer krank, hat sein ganzes Leben nur gespart und kommt nach Berlin, um seine letzte Zeit wie ein reicher Mann zu verbringen, Kleinganove Baron von Gaigern hingegen ist in der Blüte seiner Jahre, während die früher beliebte Tänzerin Grusinskaja mit ihrem Alter zu kämpfen hat, dann wäre da noch der Generaldirektor Preysing, der einen Auftritt ans Land ziehen will und seine Stenotypistin Flämmchen. Im Laufe der Geschichte berühren sich immer wieder die einzelnen Schicksale. Jeder von ihnen wird das Hotel anders verlassen, als er/ sie es betreten hat.

Wie zu sehen ist, es gibt eine Fülle von Figuren und das ist der erste Punkt, der für mich sowohl positiv als auch negativ war. Es gibt nicht den einen Protagonisten, sondern viele. Und das ist gemessen an heutige Lesegewohnheiten zunächst etwas ungewöhnlich, da man es kennt, ein Kapitel aus der Sicht von Protagonist X zu haben und im nächsten wechselt man zu Protagonist Y, aber das ist in Menschen im Hotel nicht der Fall. Die Wechsel folgen innerhalb der Kapitel manchmal schnell, manchmal dauern sie länger an. Es hat sich oft angefühlt wie eine Kamerafahrt, die durch das Hotel fährt und mal hier und mal dort hängenbleibt. So gibt es einen Ballettauftritt, bei dem wir zunächst bei Kringelein sind, dieser schaut sich den Tanz der Grusinskaja an und zack – Gedankenwelt Gruisinskaja. Es ist ein interessantes Stilmittel, das hervorragend zur Geschichte passt, dass mir jedoch den Zugang erschwert hat und dazu führte, dass ich häufiger als einmal den Faden verloren habe, weil es kaum Kapitel und nur wenige Absätze gibt. Dadurch ist es eher kein Buch, wenn man wenig zum Lesen kommt.

Nachdem ich mich aber reingefunden habe, fand ich es spannend, von den einzelnen Schicksalen zu lesen. Man schaut hinter ihrer Fassade, taucht in ihre verstrickte Gedankenwelt ein, die zeitweise sehr eindringlich sein können. Die einzelnen Schicksale berühren sich mal länger, mal kürzer, mal mehr, mal weniger. Auf jeden Fall kommt jeder von ihnen anders durch die Drehtür des Grand Hotels, als er oder sie reingekommen ist. Das Grand Hotel ist der Dreh und Wendepunkt der Geschichte, das Setting, an dem sich alles ereignet und man die Figuren für einen kurzen Augenblick auf ihrer Zwischenreise beobachtet. Der Flair der Goldenen Zwanziger ist zu spüren sowie die Probleme und Schwierigkeiten der damaligen Zeit. Es ist eine atmosphärische, melancholische und tragische Geschichte. Der Schreibstil ist klar und verständlich, es liegt für die Neue Sachlichkeit eine charakteristische verständliche Alltagssprache und eine präzise Ausdrucksweise vor. Zugleich ist es aber auch an vielen Stellen poetisch, dass ich einige Passagen wiederholt gelesen habe. Dazu kommt ein für mich unerwartetes Ende, das mich gepackt- und mich für die zunächst zeitweise mühseligen Lesestunden belohnt hat.

Alles im Allem lohnt sich ein Blick in das wohl bekannteste Werk von Vicky Baum. Atmosphäre und Schreibstil haben mich gepackt und nach anfänglicher Einstiegsphase fand ich auch die Erzählweise ansprechend, dennoch hätte ich mir weiterhin hin und wieder ein Kapitel gewünscht.

Habt ihr das Buch schon gelesen? Wie hat es euch gefallen?
Mögt ihr lieber längere oder kürzere Kapitel?

„Was im großen Hotel erlebt wird, das sind keine runden, vollen, abgeschlossenen Schicksale. Es sind nur Bruchstücke, Fetzen, Teile; hinter den Türen wohnen Menschen, gleichgültige oder merkwürdige, Menschen im Aufstieg, Menschen im Niedergang; Glückseligkeiten und Katastrophen wohnen Wand an Wand.
Die Drehtür dreht sich, und was zwischen Ankunft und Abreise erlebt wird, das ist nichts Ganzes“ (S. 309)

5 Kommentare

  1. Es ist so lange her, dass ich mich schon gar nicht mehr an den Inhalt erinnern konnte, danke fürs Erinnern, so langsam habe ich wieder ein Bild. Mir hat das Buch gefallen, denn es steht noch in meinem Regal – da ich viel aussortiert habe, wäre es sicherlich sonst dem Aufräumwahn zum Opfer gefallen. (Vielleicht lese ich es noch einmal, wer weiß)
    Lieber Gruß
    Regina

  2. Lustig, aus irgendwelchen Gründen hatte ich das vor 2-3 Wochen auch in der Hand (wenn man das so sagen kann, wenn man bei Amazon mal ein wenig rumklickt). Habe es dann aber doch (noch) nicht gekauft.

  3. Liebe Nadine,
    ich kannte das Buch noch nicht, bin aber immer auf der Suche nach neuen Ideen und es hört sich wirklich richtig interessant an. Kommt auf meine Bücherliste 🙂
    Ich wünsche dir einen schönen Donnerstag, Elisa xx

  4. Liebe Nadine,
    mir war das Buch bisher auch noch nicht bekannt. Ich lese sehr viel Belletristik, lass‘ mich aber hin und wieder gern auch von anderen Büchern überzeugen. 🙂

    Ich wünsche dir noch ein schönes Wochenende!

    Liebe Grüße
    Lisa Marie

  5. Wörter auf Reise

    Gerne doch, bei so vielen Büchern vergisst man gerne was, viel Spaß bei deinem ReRead, falls du mal einen machen solltest 🙂

Kommentar verfassen