Der Schleier eines Lebens – Kurzgeschichte Teil 3

[Nach zwei weiteren Liedern wurde die Gitarre eingepackt und die Menge löste sich auf. Jegliches Zeitgefühl ging ihr verloren. Nur noch die Musik existierte, die tief in ihrem Inneren etwas auslöste. Seit langem fühlte sie sich wieder lebendig. Ihr Herz schlug lauter, im Takt der Melodie. Nur langsam konnte sich aus ihrer Trance befreien und die Welt um sich herum wieder deutlicher erkennen. Sie blinzelte eine winzige Träne weg und machte sich auf den Weg, als hätte es diesen Moment nie gegeben.]

Ihr Weg führte sie entlang der Rheinpromenade, wo es weniger hektisch zuging. Einige Menschen verausgabten sich beim Sport, gingen joggen oder fuhren Fahrrad. Andere hingegen saßen in eingepackte Decken vor den zahlreichen Cafés und Restaurants. Es war lange her, dass sie sich mit Freunden in der Stadt zum Quatschen getroffen hatte. In einem anderen Leben musste es gewesen sein. Stundelang saßen sie dort, beobachteten die Leute und tauschten sich über den neuesten Tratsch aus. Mittlerweile hatten sie kaum noch Kontakt. Sie hatten sich nicht gestritten. Nein. Das Leben war passiert. Sie hatten sich einfach auseinandergelebt. Zogen in die verschiedensten Ecken, gründeten Familien und hatten einen neuen Freundeskreis, der den alten ablöste. Nur sie war geblieben. Für eine Zeit machte es ihr nicht aus, dass der Kontakt ihnen entglitt. Sie war glücklich, genoss die Zeit mit ihrem Freund, mit dem sie eine Familie zu gründen beabsichtigte. Aber dann passierte wieder das Leben. Erst viel später erkannte sie ihren Fehler. Sie hätte sich bei ihnen melden sollen. Gute Freunde lässt man nicht einfach weiterziehen. Die Einsicht kam zu spät.
„Haben sie vielleicht eine kleine Spende?“
Eine Person mit abgebrochenen Vorderzähnen, gekleidet in einem weitsitzenden Pullover, tauchte vor ihr auf und hielt ihr eine Blechdose hin.
„Nein.“, lautete ihre knappe Antwort. Sie wollte an ihm vorbei gehen, da spürte sie eine Berührung an ihrem Arm. Seine Fingernägel waren gelb und angeknabbert. Die Hände an einigen Stellen blutig aufgerissen. Dieser Anblick war nichts gegen den Geruch, der von ihm ausging.
„Bitte. Ein wenig ham se bestimmt übrig. Sie mit ihren schick, schicken Klamotten und den graden Zähnchen.“, lallte er.
Sie versuchte sich seiner Berührung zu entziehen.
„Immer vorbei schaun, so is die Welt.“
„Warum sollte ich ihnen Geld geben, wenn sie es eh nur für Alkohol ausgeben?“, antworte sie mehr zu sich selbst als zu ihm und ging weiter.
„Wieso net? Wat an Alkohol is so schlecht? Hält warm, vertreibt Sorgen. Als ob se dat net kennen. Wissen se? Wir sind uns gar net so unähnlich. Jetzt bleiben se doch ma stehen.“
Gewiss nicht. Sie machte sich daran, den Abstand zu dem aufdringlichen Obdachlosen, mit schnellen Schritten zu vergrößern.
„In nem andren Leben sind unsre Rollen vielleicht vertauscht. Dann wollen se Hilfe, aber dann werd ich vorbei gehen.“, brüllte er ihr hinter her. Er gab noch weitere weniger nettere Äußerungen von sich, die aber mit dem Wind vorbeizogen.

Die Treppe stolperte sie mehr hoch als zu gehen. Oben angekommen blieb sie am Gelände stehen und atmete tief durch, um ihre Herzsequenz zu senken. In der Ferne streckte sich der Dom in die Höhe, hinter dem sich am Himmel dunkle Wolken bildeten. Bald würde es anfangen zu regnen. In den letzten Tagen hatte es viel geschüttet. Aus diesem Grund war der Fluss eine einzige strömende dunkle Masse. Ihr Leben hing, wie des Mannes an einen Faden, der kurz davor war zu reißen. Das verband sie. Wäre sie weniger feige, könnte sie sich in die Flut stürzen. Stattdessen wandte sie sich ab und ging weiter. Unterwegs spürte sie die ersten Tropfen auf ihrer Haut. Es blieb nicht bei einem. Immer mehr nieselten auf sie herab, bedeckten ihre Brille, wodurch ihre Umgebung, der Bürgersteig, die vorbeifahrenden Autos, verschwammen. Die Haare hingen nass im Nacken. Dennoch beschleunigte sie ihre Schritte zur nächsten U-Bahn-Station nicht.

Ohne auf die Richtung zu achten, nahm sie die erst beste Bahn und setzte sich an einen Fensterplatz. In einem gemächlichen Tempo fuhren sie in den Tunnel hinein, hinein in Dunkelheit, um dann an der nächsten Station im hellen aufzutauchen und dann wieder in die Dunkelheit zu verschwinden. Station um Station fuhr sie, blieb sitzen, machte nichts. Die Menschen stiegen ein, stiegen aus ohne sie eines Blickes zu würdigen. Keiner nahm ihre Existenz war. Als wäre sie nicht anwesend, nur eine leere, durchsichtige Hülle. An der Endstation stieg sie aus, ging vorbei an einer Gruppe von Jugendlichen, die einen Kreis um jemanden bildeten, den sie zu schupsen begangen. Keiner der ausgestiegenen Menschen unternahm etwas, auch nicht, als Schreie den U-Bahn-Schacht durchdrangen. Weder die ältere Dame noch das Muskelpaket. Auch sie wollte gehen, nahm den Weg Richtung Ausgang und blieb dann stehen. Etwas hielt sie davon ab, sich weiter zu entfernen. Eine Person stolperte in sie hinein. Die Beschwerde trat nur leise an ihr Ohr. Stattdessen erklang eine leise Melodie. Der Junge schrie wieder. Dieses Mal noch schmerzvoller. Sie könnte die Polizei rufen, aber bis die da wäre, wäre es längst zu spät. Etwas musste geschehen. Sie drehte sie sich um und ging los. Es war aussichtslos, sie hatte keine Chance. Der erste Schlag traf sie im Gesicht, der zweite in der Magengegend. Taumelnd näherte sich ihr Körper dem Boden. Von weiter Ferne nahm das Lied an Lautstärke zu, seichte Gitarrenklänge erklangen und mit einem Lächeln auf den Lippen sank sie hinab.

 

20181031_125154

Was sagt ihr zum Ende und allgemein zur Kurzgeschichte? Über Anmerkungen freue ich mich sehr 🙂

Kommentar verfassen